Psychosomatische Erkrankungen bei Katzen: Freigänger sind selten betroffen – Patricia Lösche
Psychosomatische Störungen, bei denen eine körperliche Erkrankung auf seelische Belastung hin erfolgt, sind bei Katzen keine Seltenheit. Insbesondere bei Virus-Infektionen, Harnwegs- und Atemwegserkrankungen wird eine starke psychische Komponente vermutet. Ebenso bei Diabetes. Das wirft Fragen auf: Warum neigen Katzen zur Entwicklung psychosomatischer Krankheiten? Welche Katzen sind gefährdet? Woran erkenne ich eine psychische Überlastung? Spielt die Kinderstube eine Rolle und welche Verantwortung tragen Züchter. Wir sind diesen Fragen nachgegangen.
Die Katze – für psychosomatische Erkrankungen prädestiniert?
Werfen wir zunächst einen Blick zurück. Als Menschen anfingen, ihre Ernteerträge in Vorratsspeichern zu lagern, schlossen sich die Urahnen von Felis silvestris catus, so der lateinische Name unserer Stubentiger, vor rund 10.000 Jahren freiwillig dem Menschen an. Eine Selbstdomestikation, wie sie nur die Katze für sich beanspruchen kann. Sie bekämpfte das Heer der Nager, die über die Vorräte herfielen, dafür wurde sie geschätzt, und mehr wurde von ihr nicht verlangt. Ihre Zeit als schnurrender Seelentröster und eleganter Zimmerpanther war noch lange nicht gekommen. Im Gegensatz zum Hund blieben der Katze deshalb bis vor etwa 150 Jahren selektive züchterische Eingriffe weitgehend erspart. Das Ergebnis: Katzen gelten als eigenwillig, unabhängig, individuell, wild und häuslich zugleich.
In unseren Hauskatzen steckt genetisch also noch viel mehr Wildkatze als Wolf im Hund. Bei den einen mehr, bei anderen weniger. Das könnte erklären, warum viele Katzen wenig tolerant sind gegenüber Eingriffen in ihre natürliche Lebensweise und warum sie auf erheblich davon abweichende Haltungs- und Umweltbedingungen relativ häufig mit psychosomatischen Störungen reagieren.
Psychosomatische Erkrankungen bei Katzen: Ein reizarmes Umfeld kann krank machen (Foto: Patricia Lösche)
Auslöser psychosomatischer Erkrankungen bei der Katze
Reizarme Haltungsbedingungen und ein (in der Wahrnehmung der Katze) gestörtes Verhältnis zwischen Katze und Katzenhalter begünstigen die Entstehung psychosomatischer Pathologien. Das konnte im Rahmen verschiedener Studien nachgewiesen werden. Hinzu kommt, dass Katzen oft nur bedingt, viele Katzen überhaupt nicht gruppentauglich sind. Zusätzlich zu Langeweile und zu Missverständnissen zwischen Katze und Mensch kann allein die Tatsache der Zwangsvergesellschaftung auf engem Raum an sich – mit dem Halter oder auch mit Artgenossen – für eine Katze bereits als krank machender Stressor wirken. Tatsächlich entwickeln vor allem Vollzeit-Stubentiger psychisch basierte Erkrankungen, Katzen mit Freigang sind selten betroffen, so das Ergebnis einer spanischen Studie an 336 Katzen, die mit entsprechenden Symptomen in der Tierklinik vorgestellt wurden.
Aber damit lassen sich nicht alle Fälle begründen. Wie beim Menschen auch, gibt es nicht den oder die sicheren Auslöser für psychosomatische Erkrankungen. Während das eine Tier bestimmte Dinge problemlos erträgt, ist ein anderes damit schon überfordert und entwickelt Symptome, die sich ursächlich auf als unangenehm oder bedrohlich empfundene Lebensbedingungen zurückführen lassen. Selbst unter Wurfgeschwistern können erhebliche Unterschiede bestehen. Eine Australische Studie an 1556 Katzen kam zu dem Schluss, dass Rasse, Alter, Geschlecht und soziales Umfeld maßgeblich beteiligte Faktoren sind für die Entwicklung von Verhaltensstörungen und psychosomatischen Erkrankungen.
Chronische Überforderung
Wesentlich für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen ist empfundener Stress. Er entsteht, wenn essentielle Bedürfnisse einer Katze nicht befriedigt werden. „Hauskatzen sind einer Vielzahl von Stressoren ausgesetzt, die (…) verschiedene Verhaltensveränderungen auslösen können“, schreiben die Wissenschaftler Marta Armat Tomàs Camps und Xavier Manteca in einer Abhandlung zum Thema.
Stress ist hier nicht umgangssprachlich zu verstehen, sondern im biologisch-medizinischen Sinn als Antwort auf eine Belastung, die den Körper herausfordert. Er definiert sich als eine körperliche und psychische Reaktion auf schädliche oder unangenehme Reize (Stressoren), deren Verarbeitung und Kontrolle das Tier akut oder chronisch, also andauernd, überfordert. Der Körper reagiert darauf mit Ausschüttung von bestimmten Hormonen, den Stresshormonen. Es sind die gleichen, mit denen auch der menschliche Körper Stresssituationen beantwortet. Interessant ist für uns hier vor allem das Cortisol (Cortison, Corticosteron), weil es die Antwort ist auf chronifizierten Stress. Damit ist es für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen von zentraler Bedeutung, denn es wirkt langanhaltender als das nur kurzfristig wirkende Stresshormon Adrenalin.
Cortisol ist ein körpereigenes Steroid-Hormon, das in der Nebennierenrinde gebildet wird und im Organismus viele Aufgaben hat. Unter anderem wirkt es entzündungshemmend, was man sich bei der Medikation mit dessen inaktiver Vorstufe Cortison zunutze macht. Grund dafür ist die Schwächung des Immunsystems, weshalb ein dauerhaft hoher Cortisolspiegel die Anfälligkeit insbesondere für Infektionskrankheiten steigen lässt. Cortisol fördert den katabolen (abbauenden) Stoffwechsel, beeinflusst das zentrale Nervensystem, hebt den Blutzuckerspiegel (Diabetes!), fördert den Knochenabbau (Osteoporose).
Psychosomatische Erkrankungen bei Katzen: Bei Verträglichkeit sind Artgenossen ein gutes Mittel gegen Langeweile (Foto: Patricia Lösche)
Coping – Schutzschild der Katze gegen Stress
Bei sensiblen Katzen triggern Angstzustände, Schmerzen, allgemein Traumata und belastende Situationen, die die Katze nicht selbst beeinflussen oder vorhersehen kann, die Entwicklung psychischer Störungen. Dagegen haben robustere Charaktere, die eine große Stresstoleranz zeigen, gelernt mit Belastungen umzugehen oder finden eine Möglichkeit, ihnen auszuweichen. Diese Tiere sind wenig anfällig für die Entwicklung psychosomatischer Störungen. Sie entwickeln geeignete Bewältigungs-Strategien in potenziell stressbelasteten Situationen, eine Fähigkeit, die als Coping bezeichnet wird. Coping-Kompetenz wird einerseits bestimmt durch genetische Faktoren, andererseits durch die Umwelt, sogenannte epigenetische Einflüsse. Letztere bestimmen, welche der vorhandenen Gene aktiviert werden und welche nicht.
Epigenetik: Jedes Lebewesen hat einen Bauplan, die Gene, die in Form der DNA (auch DNS) im Zellkern jeder Körperzelle vorliegen. Aber nicht immer und an jeder Stelle soll jedes Gen abgelesen werden. Hier muss eines vorübergehend oder dauerhaft abgeschaltet, an anderer Stelle eines aktiviert werden. Umwelteinflüsse und Bedarfssituationen im Körper bestimmen die epigenetische Programmierung des Genoms, deren Ergebnis sogar an die Nachkommen weitergegeben werden kann, also vererbbar ist. Die Gene selbst werden dabei nicht verändert. Versuche mit geklonten Ratten haben gezeigt, dass sich auf diese Weise selbst genetisch identische Geschwister durch den Einfluss der sie umgebenden Umwelt und dadurch wirksame epigenetische Einflüsse zu voneinander verschiedenen Individuen entwickeln. Am Ende gleicht kein Organismus dem anderen, obwohl sich die Gene nicht unterscheiden.
Der Einfluss von Fürsorge und freundlichem Umfeld
Epigenetische Faktoren beeinflussen Verhalten, Stoffwechsel und Belastbarkeit der Nachkommen. Sie prägen den Organismus auch dahingehend, wann und wieviel Cortisol produziert wird, weil sie die mit dem Cortisol-Stoffwechsel verbundenen Organe und Hirnregionen programmieren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die die Auswirkung epigenetischer Einflüsse in der frühen Entwicklungsphase untersucht hat. Betroffen hiervon sind auch Teile des Gehirns, genauer: der Hippocampus, eine Hirnregion, die als emotionaler Filter an der Verarbeitung äußerer Einflüsse beteiligt ist. Außerdem ist er beteiligt an kognitiven Leistungen. Dazu gehören Erinnerungsvermögen, Lernen und Problemlösungsverhalten, aber auch Orientierung, Kreativität und emotionale Leistungen.
Zu den epigenetischen Einflüssen zählen beispielsweise die Belastung des Muttertieres während der Trächtigkeit, die Fürsorglichkeit der Muttertiere gegenüber den Welpen, aber auch der mütterliche Ernährungszustand oder das Erlebnisumfeld während der Aufzucht. Reizarm aufgezogene Katzen zeigen beispielsweise gegenüber frei aufgewachsenen Artgenossen eine Beeinträchtigung in der Beantwortung und Unterscheidung optischer Reize und eine verzögerte Reaktion auf akustische Reize, ein Hinweis darauf, dass ein Aufwachsen in reizarmer Umgebung die Wahrnehmungsleistungen bei erwachsenen Katzen beeinträchtigen kann. Einige der Folgen sind lebenslang wirksam und werden sogar an die nächste Generation vererbt, andere werden durch nachfolgende Erfahrungen modifiziert oder rückgängig gemacht.
Psychosomatische Erkrankungen bei Katzen: Jagd- und Spieltrieb wollen ausgelebt werden (Foto: Patricia Lösche)
Katzenwelpen brauchen viel positiven Input
Zusammengefasst bedeutet das: Je weniger positiv erlebte Reize der Welpe kennenlernt und je mehr Stressoren vorgeburtlich und in der frühen Lebensphase auf seinen Organismus und den des Muttertieres einwirken, desto stressanfälliger wird das jeweilige Tier. Und je größer die Stressanfälligkeit, desto wahrscheinlicher ist die Entwicklung psychosomatischer Erkrankungen.
Eine wohlgenährte, fürsorgliche Mutterkatze, die ihre Jungen in einem angenehmen Umfeld mit positiven Umweltreizen bei geringer körperlicher und seelischer Stressbelastung aufzieht, wird auch seelisch und körperlich stabilere Nachkommen ins Leben entlassen als eine schlecht genährte Mutterkatze, die ihre Jungen unter ständiger Bedrohung in einem reizarmen Umfeld großziehen muss.
Wirft eine trächtige Kätzin ihre Jungen in plötzlicher Gefangenschaft, kann diese Stressbelastung bei den Welpen zu psychischer Anfälligkeit, verminderter Coping-Kompetenz und Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) führen. Ähnlich bei Welpen von Katzen in schlechten Haltungsbedingungen. Wachsen Katzenwelpen in der reizarmen Umgebung eines kahlen Zimmers oder Zwingers auf (in profitorientierten Massen-Vermehrungen die Regel), sind sie in ihren sinnlichen Wahrnehmungen beeinträchtigt. Auch frühes Entwöhnen und unerfahrene oder wenig fürsorgliche Muttertiere erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Stressanfälligkeit und damit für das Auftreten von Verhaltensstörungen und die Ausprägung psychosomatischer Erkrankungen. Wirken dann im weiteren Leben zusätzliche Belastungen auf die Katze ein, können die verminderten Coping-Fähigkeiten potenziell krank machen.
Dagegen sind Welpen umgänglicher und dem Menschen zuwandter Katzenmütter (und –väter!) nachweislich sowohl bekannten, als auch fremden Menschen gegenüber aufgeschlossener als Welpen scheuer und daher schneller stressbelasteter Katzen. Spätes Absetzen, wie es verantwortungsbewusste Züchter in der Regel praktizieren, wirkt sich ebenso positiv auf die psychische Stabilität aus wie die Aufzucht durch ein souveränes, entspanntes und fürsorgliches Muttertier.
Wichtige Risikofaktoren für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen bei Katzen
Welpen:
- Stresserleben während der Trächtigkeit des Muttertieres und während der Aufzucht der Welpen
- schlechter Ernährungszustand des Muttertieres
- unerfahrene oder ruppige Muttertiere
- wenig fürsorgliche Zuwendung und Pflege durch das Muttertier
- gegen Menschen aggressive Elterntiere
- wenig oder schlechte Erfahrung mit Menschen während der Aufzucht
- Reizarmes Umfeld während der Aufzucht
- frühes Absetzen
Erwachsene Katzen:
- Reizarmes Lebensumfeld der erwachsenen Katze
- fehlender Freigang
- Traumatisierende Erlebnisse
- Gewaltsamer Umgang
- unangemessenes Handling der Katze
- Willkür bei Erziehung und Umgang
- ständig wechselnde Tagesabläufe
- häufige Umzüge und Besitzerwechsel
- Vergesellschaftung nicht sozial kompatibler Katzen mit Artgenossen
- fehlender Umgang mit Artgenossen bei sozial veranlagten Tieren
- Mobbing durch Artgenossen
- gestörte Beziehung zwischen Mensch und Katze
- Ein Leben mit Freigang bietet viel Abwechslung
Psychosomatische Erkrankungen bei Katzen: Ein Leben mit Freigang bietet viel Abwechslung. Indoor-Haltung muss das kompensieren. (Foto: Patricia Lösche)
Psychosomatosen: chronischer Stress statt Challenge
Auslöser für die Entstehung einer psychosomatischen Erkrankung lassen sich einteilen in physische (z.B. Bedrohung, Strafe, schlechte Haltungsbedingungen), innerartliche soziale Auslöser (z.B. Unverträglichkeit unter Mitkatzen) und die Beziehung zwischen Besitzer und Tier (z.B. falscher Umgang und Willkür). Solange die Katze gelernt hat, damit umzugehen (Coping), handelt es sich nicht um Stress, sondern um Challenge (engl. für Herausforderung).
Während Challenge die Katze nicht dauerhaft beeinträchtigt, ist bei chronischem Stresserleben das innere Kontrollsystem überlastet. Dazu müssen mehrfaches Auftreten und/oder längere Einwirkung, vor allem aber Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Situation durch die Katze auf entsprechende genetische Voraussetzungen treffen. Wenn sie beispielsweise dem Mobbing von Artgenossen oder der Willkür im Umgang durch den Menschen ausgesetzt ist. Kommen mehrere solcher Reize zusammen (Belastungsakkumulation), addiert sich der ausgelöste Stress und die Wahrscheinlichkeit einer psychosomatischen Erkrankung steigt.
Psychosomatische Erkrankungen entwickeln sich meist schleichend. Scheinbar plötzlich zeigt die Katze körperliche Symptome. Bei der Anamnese stellt sich dann jedoch heraus, dass es bereits im Vorfeld Verhaltensveränderungen gab. Oft werden sie als Alterserscheinung, Schrulligkeit oder Ungehorsam abgetan. Dabei sind Verhaltensveränderungen oft ein Hilferuf und Indiz für eine erhöhte Stressbelastung. Bei frühzeitiger Intervention durch eine Ursachenanalyse mit entsprechender Verhaltensberatung durch geschulte Verhaltensberater und Therapeuten lässt sich die körperliche Manifestation oft verhindern.
Verhaltensänderungen, die auf eine Stressbelastung der Katze hindeuten
Verhalten | Verhaltensveränderung |
Appetit | Normalerweise reduziert, seltener erhöht |
Putzen | Normalerweise verstärkt, seltener vermindert |
Aktivitätsniveau | reduziert |
Spielverhalten | reduziert |
Erkundungsverhalten | reduziert |
Markierung durch Kopfreiben | reduziert |
positive Interaktionen mit anderen Katzen oder Menschen | reduziert |
Lautgebung | verstärkt |
Wachsamkeit | erhöht |
Verstecken | vermehrt |
Harnmarkieren | verstärkt |
Aggression gegen Artgenossen und Menschen | verstärkt |
Zwangsstörungen | zunehmend; Katzen in einem optimalen Umfeld und/oder mit Freigang entwickeln keine Zwangsstörungen |
Tabelle nach Amal et al.: Stress in owned cats: behavioural changes and welfare implications (Journal of Feline Medicine an Surgery 2015)
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Patricia Lösche
Patricia Lösche ist freie Autorin, Text- und Bild-Journalistin. Der Dolmetscher-Ausbildung folgten Biologie- und Journalistik-Studium, freier und redaktioneller Journalismus für verschiedene große Verlage. Später dann die Ausbildung zur Tierheilpraktikerin an der ATM und die Tierpsychologie-Ausbildung an der ATN. Empathie, Achtung und Verständnis auf Augenhöhe im Umgang mit Tieren sind Patricia Lösche ein besonderes Anliegen. Seit 2014 schreibt sie für ATM und ATN Blogbeiträge, ist Autorin von Skripten und betreut als Tutorin die Studierende unterschiedlicher Fachbereiche. In die Wissensvermittlung fließen mehrjährige Praxis-Erfahrungen aus der naturheilkundlichen Behandlung von Pferden, Hunden und Katzen ebenso ein, wie die jahrzehntelange Erfahrung eigener Tierhaltung. Sie ist Mitglied im Fachverband niedergelassener Tierheilpraktiker (FNT) und 1.Vorsitzende im Berufsverband der Tierverhaltensberater und –trainer (VdTT).