Gähnen beim Pferd bei Krankheit, Therapie und Ausbildung – Foto: Rita Kochmarjova, Fotolia
Gähnen wurde bei Mensch und Tier lange Zeit einzig als Müdigkeitssignal angesehen. In jüngerer Zeit kamen immer mehr Theorien auf, warum Pferde in den unterschiedlichsten Situationen vermehrt gähnen – unter anderem während einer therapeutischen Behandlung. Stimmen sie?
Gähnen beim Pferd – wissenschaftlich erforscht
Osteopathen, Physiotherapeuten und Craniosakraltherapeuten achten in der Regel sehr genau darauf, ob ein Pferd während der Behandlung gähnt. Das Gähnen gilt als ein Zeichen, dass eine therapeutische Maßnahme wirkt. „Da hat sich gerade eine Blockade gelöst!“, heißt es dann. Auch Pferdeausbilder freuen sich über das anhaltende Gähnen des Pferdes nach einer Einheit Bodenarbeit – denn dann denkt das Pferd über das Gelernte angeblich nach. Und tatsächlich beginnen Pferde in den genannten Situationen auffällig lange zu gähnen.
Die Wissenschaft vom Gähnen nennt sich Chasmologie und ist noch recht jung. Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass das Gähnen ausschließlich dazu dient, Sauerstoffmangel im Gehirn zu beheben. Seit 1987 aber weiß man, dass im Gehirn durch das weite Öffnen des Mundes keine Frischluft ankommt. Diese Erkenntnis machte die Forschung neugierig: Warum gähnen dann alle Wirbeltiere, vom Löwen bis zum Zwergfinken, vom ungeborenen Kind ab der 14. Woche bis zum Flussbarsch? Denn tatsächlich konnte das Verhalten inzwischen bei allen Säugetieren, Amphibien, Fischen und Vögeln beobachtet werden. Einzig Giraffe, Wal und Delfin wurden noch nicht beim Gähnen ertappt. Als gesichert gilt inzwischen, dass das Gähnen unterschiedliche Funktionen erfüllt – und dass es mit Müdigkeit sehr wenig zu tun hat. Das sollte zumindest all jene beruhigen, die befürchten, ihr Pferd bei der Trainingseinheit zum Gähnen gelangweilt zu haben.
Gähnen für den sozialen Zusammenhalt
Gähnen ist eine Verhaltensweise, die das soziale Miteinander stärkt – daher ist es auch so „ansteckend“, selbst über Artgrenzen hinweg. Gähnt ein Pferd in der Herde, macht bald ein anderes mit. So taktet sich eine Herde im Ruhe- und Aktivitätsrhythmus ein. Durch das Ansprechen der Spiegelneuronen und die gleichartige Handlung wird außerdem eine emotionale Verbindung zum Gegenüber hergestellt. Die Herde rückt also durch gemeinsames Gähnen ein Stück weiter zusammen. Dazu passt, dass Gähnen auch durch eine vermehrte Oxytocinausschüttung ausgelöst werden kann, also durch das bekannte „Kuschelhormon“. Beim Menschen fand man zudem heraus, dass befreundete Personen eher mit dem anderen mitgähnen als Fremde. Dass dies bei Pferden ähnlich ist, liegt nahe, wurde aber noch nicht überprüft.
Gähnen zur Steigerung der Aufmerksamkeit
Warum gähnt man bei Langeweile oder nach dem Aufwachen? Eine derzeit starke Theorie geht davon aus, dass das Gähnen das Gehirn aufwecken und Aufmerksamkeit wecken soll. Schließlich wird auch unter Stress gegähnt: Spitzensportler zeigen es vor dem Wettkampf ebenso wie Hunde in Stresssituationen. Löwen gähnen vor der Jagd ebenfalls. Tatsächlich nimmt das Gähnen sogar zu, wenn im Blut die Menge an Serotonin, Dopamin oder Glutaminsäure zunimmt – also die Menge der Schmerzhemmer und erregenden Neurotransmitter. Das heißt: Größere Anspannung verstärkt die Neigung zum Gähnen.
Es ist also theoretisch durchaus möglich, dass ein Pferd in einer Stresssituation mit Gähnen reagiert. Allerdings dürfte hierfür nur eine länger anhaltende, niedrigschwellige Erregung geeignet sein, die bei Fluchttieren selten auftritt. Forscher fanden daher auch heraus, dass Beutetiere seltener gähnen als Raubtiere.
Gähnen beim Pferd kann viele Gründe haben.
Gähnen zur Thermoregulation des Gehirns
2010 konnte an Ratten nachgewiesen werden, dass durch intensives Gähnen die Temperatur im Gehirn gesenkt wird. Eine Steigerung der Temperatur stört die Funktionsfähigkeit und Geschwindigkeit des Gehirns, sodass die Abkühlung überlebenswichtig sein kann. Beim weiten Öffnen des Mundes streicht kühle Luft am Gaumendach entlang und kühlt das dort vorbeifließende Blut. Die Temperatur im Gehirn steigt, wenn es draußen warm ist, aber auch, wenn sich bei intensiver Bewegung der Körper und damit das Blut erwärmt. Ein „Heißlaufen“ des Gehirns bei schwieriger Denkarbeit ist dagegen nicht belegt.
Gähnen zur und bei Entspannung
Gähnen dient aber nicht nur dem Aufmerksam-Machen, sondern auch der Entspannung. Aus diesem Grund ist es meist mit einem Strecken des Körpers oder bei Pferden zumindest des Halses verbunden. Die Gesichtsmuskeln werden teilweise gedehnt und das Kiefergelenk durch Vorschieben des Unterkiefers entlastet. Hier kann wiederum die Brücke zu anhaltendem Stress geschlagen werden: Wenn ein Organismus langfristig unter Spannung steht, muss er, um gesund zu bleiben, Entspannung erzwingen. Zum Beispiel durch Gähnen.
Gähnen als Schmerzanzeichen
Nicht zuletzt ist Gähnen auch als Anzeichen von Schmerz oder Hunger nachgewiesen – die beim Pferd oft zusammenhängen. Pferde gähnen (oder flehmen) vor allem in Zusammenhang mit Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes: bei Koliken und Magengeschwüren. Häufiges Gähnen ohne Anlass und in der Box kann auf Entzündungsprozesse der Magenschleimhaut hinweisen und sollte daher ernst genommen werden.
Gähnen bei Ausbildung und Therapie
Welche der genannten Theorien, die teils noch auf ihre finale Bestätigung warten, passt aber nun mit dem gähnenden Pferd während der therapeutischen Behandlung zusammen? Hier kann nur gemutmaßt werden, denn steckt die Gähn-Forschung für den Menschen noch in den Kinderschuhen, wurde sie für unsere Haustiere noch nicht einmal geboren. Auf der Basis der derzeit gängigen Theorien kommen vor allem zwei Gähn-Ursachen-Komplexe in Frage: Entspannung und Thermoregulation.
Wird ein Pferd osteopathisch behandelt, zeigt das Gähnen möglicherweise an, dass ein Schmerzfaktor oder eine Fehlspannung nachgelassen haben. Das Tier kann plötzlich im behandelten Körperareal entspannen – und zeigt dies durch das Entspannungsverhalten Gähnen.
Auch das Pferd, das intensiv gearbeitet wurde – beispielsweise im Rahmen der Bodenarbeit – kann durch sein Gähnen nach der Arbeit anzeigen, dass die Anspannung nachlässt. Möglich ist hier aber auch ein Gähnen als Übersprungsverhalten, um aktiv Stress abzubauen. Und nach einer intensiven Reiteinheit soll möglicherweise die Temperatur des Gehirns gesenkt werden.
Richtiges Gähnen von „falschem“ unterscheiden
In den meisten Fällen ist Gähnen nicht krankhaft, sondern als ein durchaus positives Zeichen eines entspannten oder entspannenden Pferdes zu sehen. Mitunter weisen Therapeuten aber stolz auf die „Lösung“ eines Problems hin, obwohl das Pferd nicht richtig gähnt. Sehr ähnlich aussehend, aber in seiner Bedeutung völlig unterschiedlich zu betrachten ist das „Spannungssperren“, das manche Pferde bei Berührungen an problematischen Körperstellen zeigen. Dieses unterscheidet sich – ähnlich dem Unterwerfungskauen von Fohlen – vom echten Gähnen in mehreren Punkten:
Zungenbein – Symptom oder Ursache?
Welche Funktion das Spannungssperren genau hat, variiert. Es kann als ein „leeres“ Zähneknirschen gesehen werden; manche Therapeuten vermuten auch Probleme am Zungenbein (Hyoid) als Ursache, da der Hals nicht wie beim Gähnen lang gemacht wird, sondern mit konkaver Unterlinie festgehalten wird. Die mm. omohyoideus (subskapulare Faszie–Basihyoid), sternohyoideus (Manubrium sterni–Hyoid) und sternothyroideus (Man. sterni–Thyrohyoid) geraten bei dieser Haltung unter starke Anspannung. Damit stellt sich aber die Frage, ob das Sperren bzw. eine Zungenbeinproblematik die Ursache oder nicht vielleicht die Folge einer solchen Spannungshaltung ist, die vielleicht in einem rotierten Brustbein seine Ursache hat.
Spannungssperren besser nicht tolerieren
Manche Pferde haben sich das Spannungssperren zur Angewohnheit gemacht, ähnlich dem Koppen unter Stress. Das bedeutet aber nicht, dass man es als irrelevant abtun sollte: Es kann auf einen aktuell vorhandenen Schmerz hinweisen. Ein guter Therapeut erkennt auf den ersten Blick den Unterschied zum entspannten Gähnen und findet durch eingehende Untersuchung die Ursache des Verhaltens. Werden körperliche Probleme ausgeschlossen und passt das Equipment, vor allem Gebiss und Sattel, kann und sollte der Besitzer selbst mit viel Ruhe, Geduld und sanften Berührungen gegen das angelernte Verhalten vorgehen. Denn während intensives Gähnen herrlich entspannt, fördert das verspannte Sperren nur das Gefühl des Unwohlseins. Das aber sollte bei der Ausbildung und im Umgang mit dem Pferd um jeden Preis vermieden werden. (Zeichnungen: Kay Szantyr)
Kay Szantyr
Kay Szantyr ist freie Redakteurin in Berlin und angehende Physiotherapeutin für Pferde. Sie unterstützt in ihrer Freizeit Besitzer von Problempferden und unterrichtet die dressurmäßige Ausbildung von Freizeitpferden am Kappzaum und unter dem Sattel.
Webseite: pegasusprinzip.com