Hunde: Hilft Kastration gegen Aggression beim Rüden?

Magyar Viszla Rüde
Hunde: Hilft Kastration gegen Aggression von Rüden? ©Patricia Lösche

Kastration eines Rüden soll die Produktion von Testosteron unterbinden, desjenigen Hormons, dass ihn zum Rüden macht. Viele geben ihm die Schuld am Aggressionsverhalten intakter Rüden. Aber das Geschlechtshormon Testosteron ist nur zu einem erstaunlich geringen Anteil beteiligt, wenn sie aggressiv werden. In allen anderen Fällen, und das sind die meisten, kann das Verhalten durch eine Kastration nicht positiv beeinflusst werden. Im Zweifelsfall führt das entstehende hormonelle Ungleichgewicht sogar zu einer Verstärkung der unerwünschten Aggression. Es ist also wichtig, der Ursache sehr genau auf den Grund zu gehen, bevor das Skalpell Tatsachen schafft, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Kastrieren von Hunden ist „in“, nicht nur in den USA, wo geschätzte 85 Prozent aller Hunde kastriert sind. Für Deutschland ist derzeit keine aussagekräftige Statistik zu finden. Sieht man sich aber in den Social Media um, dann scheint Kastration für viele Hundehalter das Mittel der Wahl zu sein, das Aggressionsverhalten ihres Rüden einzudämmen: „Kastrier ihn lieber, dann wird er friedlich.“ So lassen sich viele Ratschläge zusammenfassen.

Peta Deutschland schreibt auf seiner Internetseite: “ Wir von PETA Deutschland wünschen uns eine Verordnung, die das Kastrieren und Registrieren von Hunden und Katzen für jeden Tierbesitzer verpflichtend macht – es sei denn, ein Tierarzt stellt fest, dass der chirurgische Eingriff die Gesundheit des Tieres gefährden würde. “ Und weiter heißt es: „Die Kastration kann ein aggressives Verhalten männlicher Tiere, das im Zuge der Pubertät durch das Sexualhormon Testosteron auftritt, unterbinden, da die Keimdrüsen vollständig entfernt werden. Durch die reduzierte Ausschüttung im Körper kann sich das Tier ruhiger und weniger dominant verhalten.“

Zum einen ist die pauschale Kastration bei uns aus gutem Grund rechtswidrig, dazu weiter unten mehr. Zum anderen wird trotz der Formulierung „kann“ der Eindruck erweckt, als löse Kastration die Aggressionsprobleme geschlechtsreifer Hunde, denn eine Relativierung findet nicht statt. Auch wird einseitig positiv über gesundheitliche Konsequenzen berichtet. Dabei gibt es erhebliche negative Konsequenzen. Aber das soll hier heute nicht unser Thema sein. Uns geht es um das Motiv „Aggressivität senken durch Kastration“.

Fairerweise muss gesagt werden: Auch Tierärzte griffen früher bereitwilliger zum Skalpell, wenn ein Rüde aggressiv war. Aber neuere Erkenntnisse zur Steuerung von Verhalten zwingen zum Umdenken. Kastration kann nur eines zuverlässig verhindern: die Vaterschaft. Laut einer Umfrage von Dr. Gabriele Niepel war aber schon 2007 nicht die Verhinderung unerwünschter Fortpflanzung, sondern in vier von fünf Fällen Verhaltensmanagement der Grund für Kastrationen. Bei Aggression ist sie aber nur dann erfolgversprechend, wenn Sexualverhalten und Rivalität die Auslöser sind. Das ist meistens nicht der Fall.

Hundefreunde
Kastration von Rüden soll es ermöglichen: Friedliches Miteinander
© Marta Reinartz/Pixabay

Kastration fällt unter Organentnahme

Kastration entfernt einen Teil der Geschlechtsorgane und fällt in Deutschland unter den Begriff der Organentnahme, für die es nach dem Tierschutzgesetz einen zwingenden Grund geben muss (siehe Kasten zur rechtlichen Situation am Ende des Artikels). Nach dem deutschen Tierschutzgesetz dürfen Hunde nur kastriert werden, wenn der Tierarzt für das fragliche Tier entscheidet: “Kastration löst mit großer Wahrscheinlichkeit die bestehenden Probleme.“ Im Einzelfall kann das auch auf Aggressionsverhalten zutreffen. Aber sehr viel seltener, als die meisten Hundehalter denken, ist das in den Hoden produzierte Geschlechtshormon Testosteron beteiligt. 

Nice to know: Das Sexualhormon Testosteron

Die Produktion von Testosteron unterliegt saisonalen Schwankungen. Ausgehend vom Gehirn wird zunächst das Hormon GnRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon) ausgeschüttet. Es steuert die Produktion zweier weiterer Hormone: LH (Luteinisierendedes Hormon) und FSH (Follikel stimulierendes Hormon). Diese beiden, die in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) produziert werden, veranlassen schließlich die Produktion von Samenzellen und von Testosteron in den Hoden. Dort wird fast das gesamte Testosteron produziert. Nur ein kleiner (aber nicht unwichtiger) Teil stammt aus der Nebennierenrinde und bleibt durch die Kastration unberührt.

Aggression hat viele Ursachen

Niemand möchte einen Hund, der Artgenossen und Menschen gegenüber aggressiv ist, und es ist nur zu verständlich, wenn gestresste Hundebesitzer in ihrer Verzweiflung eine dauerhafte Lösung für ihr Problem suchen. Aber warum ist eine Kastration nur bei wenigen Hunden zielführend, wenn es um ein Update für ihr Sozialverhalten geht? Ganz einfach: Wenn sexuell motivierte Rivalität nicht der Auslöser für Aggressionen ist, kann das Skalpell nicht die Lösung der Probleme sein. Viel häufiger führen

  • Angst
  • Stress
  • Eifersucht
  • Frustration
  • Schutztrieb
  • Selbstverteidigung
  • erlerntes Verhalten
  • Ressourcensicherung
  • falsche Haltungsbedingungen
  • Missverständnisse oder Unwissenheit in Erziehung und Umgang

zu aggressivem Verhalten, Ursachen, die durch das Entfernen der Hoden nicht abgestellt werden. Verhaltenssteuerung ist eine hochkomplexe Angelegenheit, an der neben Emotionen unterschiedliche Neurotransmitter und Hormone beteiligt sind, nicht nur Sexualhormone. Darum ist Kastration kein Ersatz für Verhaltenstherapie, Training oder Coaching. Im Gegenteil: Kastration kann Aggressionen sogar noch verstärken. Ein Aspekt, den Befürworter einer pauschalen Kastrationspflicht, wie das genannte Beispiel Peta, gern unerwähnt lassen. Aus diesem Grund wird inzwischen oft von einer Kastration abgeraten, wenn sie dazu dienen soll, aggressives Verhalten zu vermindern.

Hundefreunde
Testosteron ist nicht zwangsläufig verantwortlich für Aggressionsverhalten ©sdnet01/Pixabay

„Innerartliche und zwischenartliche Aggressionsprobleme sind nach heutigem Wissensstand (…) nur zu einem geringen Prozentsatz hormonbedingt. Sie sind eher dem Lernprozess zuzuschreiben und deshalb nur in einem geringen Umfang durch Kastration zu therapieren“, heißt es deshalb in einer aktuellen Veröffentlichung des Deutschen Tierschutzbundes aus dem Dezember 2021.   

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist dem Sinn nach richtig, ist aber dennoch nicht ganz korrekt. Neben dem Testosteron aus den Hoden sind sehr wohl Hormone an der Steuerung von aggressivem Verhalten beteiligt. Diese Hormone werden aber durch die Kastration nicht oder nicht in gewünschter Weise beeinflusst. Um das verstehen zu können, sehen wir uns einige wichtige Hormone und Neurotransmitter näher an, die im Zusammenhng mit Aggression eine Rolle spielen können. 

Nice to know: Hormone 

Hormone sind Botenstoffe, Informationsvermittler, die von speziellen Drüsen produziert und über das Blut im Körper verteilt werden. Sie wirken nur in Organen und Geweben, deren Zellen Rezeptoren (Bindungsstellen) für das jeweilige Hormon haben. Es ist wie bei Schloss und Schlüssel: Nur der passende Schlüssel (Hormon) öffnet das jeweilige Schloss (Rezeptor) der Zelle und damit die „Tür“, durch die das Hormon in die Zelle gelangt, um dort zu wirken. Je mehr Rezeptoren, desto größer die wirkende Hormonmenge. Ein raffiniertes Konzept, denn ein und dasselbe Hormon kann in unterschiedlichen Zielorganen unterschiedliche Prozesse auslösen.

Cortisol und Testosteron

Den Wirkstoff Cortison in Medikamenten kennt fast jeder. Cortisol ist sein „eineiiger Zwilling“ und wird vom Körper selbst produziert. Für die Steuerung von Verhalten ist es ein enorm wichtiges Hormon. Neben vielen anderen Funktionen ist es beteiligt an Stressreaktionen, die länger als wenige Minuten andauern. 

Seine Wirkung hängt unter anderem ab von der produzierten Menge. Die Produktion wiederum wird durch verschiedene Botenstoffe und Hormone gehemmt oder getriggert. Das Hormon Oxytocin und der Botenstoff Serotonin, die wir ebenfalls noch besprechen werden, hemmen die Produktion von Cortisol, sowohl im Körper, als auch im Gehirn, der Kommandozentrale für Verhalten. 

Eine geringe Menge Testosteron wird wie Cortisol in der Nebennierenrinde produziert, ganz unabhängig von jenem Testosteron, das in den Hoden produziert wird. Ausgegangen wird von etwa fünf Prozent. Anders als in den Hoden erfolgt die Steuerung dieser Produktion nicht durch das Hormon GnRH (siehe Kasten: Nice to know: Das Sexualhormon Testosteron), sondern ebenso wie für Cortisol durch das Hormon ACTH (Adrenocorticotropin/Adrenocorticotropes Hormon). Im Zusammenspiel mit Cortisol ist dieses Testosteron wichtig für stressbedingtes Aggressionsverhalten. 

Angstaggression
Bei Angstbeißern kann sich das Problem durch den Wegfall von Testosteron verschlimmern ©zoosnow/Pixabay

Eine Kastration verändert an diesem Verhalten tatsächlich etwas. Allerdings in die falsche Richtung. „Auch die Sexualhormone haben eine cortisoldämpfende, also eine angstlösende Nebenwirkung“ (Strodtbeck/Gansloßer, 2011, S. 78). Die einfache Gleichung, die sich daraus ergibt: Weniger Testosteron, mehr Angst. Wer einen Angstbeißer oder insgesamt einen ängstlichen, stressanfälligen Hund hat tut also gut daran, ihn intakt (der Fachbegriff für unkastriert) zu lassen. Entfällt die testosteronbedingte Stressdämpfung, steigt die Wirkung des Cortisols als Stresshormon. Das „Kontrollverlustsystem“ greift stärker, der Hund wird noch stressanfälliger. Hat er bereits gelernt, Konflikte in Stresssituationen durch Aggression zu lösen, kann sich dieses Problem durch die Kastration weiter verstärken.  

Nice to know: Neurotransmitter 

Neurotransmitter sind für das Nervensystem, was Hormone im Blut sind: Botenstoffe. Damit die Weitergabe von Informationen im Nervensystem ohne Chaos vor sich gehen kann, sorgen Schaltstellen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen für eine kontrollierte Informationsübermittlung. Auf der Senderseite der Synapse werden Neurotransmitter ausgeschüttet, die auf der Empfängerseite der Synapse an Rezeptoren binden. Wir erkennen es wieder: Es ist das bewährte Schlüssel-Schloss-Prinzip. Auch zwischen Nerven sorgt es dafür, dass jeweils die richtigen Informationen von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Und weil es im Nervensystem nur Einbahnstraßen gibt ist immer klar, wer Sender und wer Empfänger ist.

Serotonin

Serotonin haben wir im Zusammenhang mit Cortisol schon kennengelernt. Es ist ein Neurotransmitter und Stimmungsaufheller mit einem sehr komplizierten Regelsystem. Vereinfacht lässt sich sagen: Je mehr Serotonin, desto weniger Aggression. Serotonin beruhigt. Studien zufolge mangelt es aggressiven Hunden an Serotonin, und je weniger Serotonin, desto aggressiver der Hund. Ein Zusammenhang, der auch für den Menschen gilt. Ursache können Gendefekte sein (zum Beispiel bei der Cocker- und Retrieverwut). Möglicherweise auch Fütterungsmängel.

Enthält das Futter zu wenig Tryptophan, fehlt es dem Körper unter Umständen an ausreichend Baumaterial für die Serotonin-Produktion. Allerdings kommen Studien, die die Wirkung von Tryptophan als Nahrungsergänzung auf Aggressionsverhalten untersuchten, sowohl zu positiven wie zu negativen Ergebnissen. Eine eindeutige Empfehlung für die Zufütterung von Tryptophan bei Aggressivität konnte daraus nicht abgeleitet werden. Ob es im Einzelfall eine Option sein könnte, muss in enger Absprache mit Tierärzten geklärt werden. Denn wer an einer „Stellschraube“ dreht, beeinflusst immer auch andere und verursacht möglicherweise Folgen, die ungewollt sind. Eine Überdosierung ist sogar gesundheitsschädlich.

Neben der direkten Auswirkung auf Aggressionsverhalten hat Serotonin auch einen indirekten Einfluss: Es hemmt die Produktion des Stresshormons Cortisol und wirkt dadurch stressreduzierend. Und wie schon gesagt: Stress ist ein wichtiger Auslöser für aggressives Verhalten. 

Streitende Hunde
Rangordnungs-Aggression wird vermutlich durch Seretoninmangel, nicht durch Testosteron gefördert ©Thomas_Ritter/Pixabay

Rangordnungs-Aggression steht vermutlich in Zusammenhang mit schwankendem oder sinkendem Serotonin-Niveau. „Erst danach folgt das aggressive Verhalten. Ist es dem Tier gelungen, durch dieses aggressive Verhalten die Rangposition zu verbessern, zieht erst dann das Testosteron sozusagen als Erfolgshormon nach“ schreiben Udo Gansloßer und Sophie Strodtbeck in „Kastration und Verhalten“ (Müller-Rüschlikon 2011, S. 73). In einer Wechselwirkung mit Serotonin scheint das Sexualhormon Testosteron Aggression beim Rüden zu dämpfen, nicht zu befördern. 

Damit ist eine Kastration doppelt kritisch zu sehen. Einmal, weil dadurch die Serotonin-Produktion ja nicht gesteigert wird. Zum anderen, weil das Testosteron auch in diesem Zusammenhang nicht mehr dämpfend wirken kann.

Oxytocin-Vasopressin-System

In sozialen Beziehungen wird unterschieden zwischen Freunden und Fremden. Motiv für Aggression gegen andere, als die vertrauten Sozialpartner, kann Eifersucht sein. Sie basiert auf dem Brutpflege- und Partnerschutz-Programm im Verhalten. Geschlechtshormone spielen dabei keine Rolle, sondern die „Bindungshormone“:  Oxytocin und Vasopressin. Die beiden klingen nicht nur kompliziert, ihr Zusammenspiel ist es auch.  

Beide wirken im Körper als Hormon und im Gehirn als Neurotransmitter. Neben anderen Funktionen ist Oxytocin verantwortlich für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Bindung und hilft beim Stressabbau in sozialen Situationen. Oft wird es als „Kuschelhormon“ oder „sozialer Kleber“ bezeichnet. Weil es ausgeschüttet wird, wenn das Zusammensein mit anderen als angenehm empfunden wird. Zwischen einander vertrauten Menschen und Hunden übrigens schon dann, wenn sie einander freundlich ansehen – bei beiden!

Oxytocin fördert Vertrauen und Wohlbefinden in Gegenwart bekannter und bevorzugter Bindungspartner, bei Berührungen, Blick- und Körperkontakt mit ihnen und in sozialem Spiel. Das gilt auch für die Beziehung zwischen Mensch und Hund, solange sie einander vertraut sind. Es hat aber auch eine andere Seite. Oxytocin ist verantwortlich für die Ablehnung von Fremden, ein Schutzmechanismus gegen Angriffe von außen, ganz unabhängig von Testosteron.

Mensch-Hund-Beziehung
Oxytocin fördert Bindungsverhalten, Vasopressin Eifersucht ©Patricia Lösche 

Das dem Oxytocin chemisch sehr ähnliche Hormon Vasopressin (andere Begriffe dafür sind ADH, AVP, Adiuretin, Arginin-Vasopressin) ist unter anderem beteiligt an sozialem Lernen und an der Wiedererkennung von Sozialpartnern. Sein „Kompetenzbereich“ ist der Partnerschutz. Wenn der Bindungspartner verteidigt wird, ist Vasopressin im Spiel. Es ist also Teil der klassischen Eifersuchtsaggression. Sehr vereinfacht könnte man sagen: Je positiver die Bindung, desto mehr Eifersucht kann entstehen. Biologisch ist dieser Partnerschutz sinnvoll, im Zusammenleben mit unseren Hunden eher unerwünscht. 

Beide Hormone entstammen der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse. Sie werden nicht in den Hoden produziert. Folgerichtig hat die Entfernung der Hoden durch Kastration keinen Einfluss auf Eifersuchtsaggression. Hier ist einfühlsame Erziehung gefragt. Hunde können und sollten lernen, dass wir über unsere Kontakte bestimmen, nicht sie. 

Prolaktin

Das Hormon Prolaktin regt die Milchbildung an. Aber daneben hat es weitere Funktionen und wird auch bei Rüden von der Hirnanhangdrüse produziert. Es steuert das Brutpflegeverhalten. Dazu muss man im Hinterkopf haben, dass sich bei den Hundeartigen (Caniden) die Rüden eines Rudels, auch wenn sie nicht Väter der Welpen sind, an der Betreuung des Rudel-Nachwuchses beteiligen. Bei unseren Haushunden haben wir kaum Gelegenheit, das beobachten.  Deckrüde und Mutterhündin leben nur selten in einem echten Rudel mit mehreren Tieren beider Geschlechter. In freier Wildbahn gehört es zum Normalverhalten. 

Säugende Hündin
Prolaktin fördert bei Hündinnen wie Rüden Brutpflegeverhalten und Verteidigung nach außen. Kastration kann das verstärken ©vlaaitje /Pixabay

Aggression gegen Fremdkinder ist keine Verhaltensstörung. Denn Prolaktin hat zwei Gesichter. Es fördert die Brutpflege im eigenen Rudel, bei den eigenen Welpen. Im Zusammenwirken mit einer geringen Menge Testosteron fördert es auch die Aggression gegen fremde Jungtiere, die gegebenenfalls sogar getötet werden können (Infantizid). Dieses Brutverteidigungsverhalten kann auch auf Menschenkinder ausgedehnt werden, die nicht zur Familie gehören. Fremde „Jungtiere“, ganz gleich ob Mensch oder Tier, werden unter dem Einfluss von Prolaktin mitunter heftig attackiert. 

Die Prolaktin-Produktion wird durch die Kastration nicht verändert, das wurde in Studien nachgewiesen. Was geändert wird ist die Menge von Testosteron im Körper. Dadurch verändert die Kastration auch aggressives Verhalten aufgrund von Brutpflegeverhalten. Aber der Schuss geht nach hinten los. 

Während wenig Testosteron die Prolaktin-Produktion fördert (und damit das durch Prolaktin bedingte Verhalten), wird Prolaktin durch größere Mengen von Testosteron aus den Hoden gehemmt. Je mehr Testosteron, desto weniger Prolaktin. Salopp ausgedrückt: Je männlicher, desto mehr Lust auf Sex und desto weniger Lust auf Babysitting und Verteidigung des Nachwuchses. Kastrierte Hunde können darum vermehrt Brutpflegeverhalten zeigen und aggressiv auf fremde Jungtiere und fremde Kinder reagieren. In einem Haushalt mit Kindern kann das gefährlich werden, sofern es nicht durch Erziehung kompensiert wird. Darum gilt auch: Es gibt ihn nicht, den grundsätzlichen Welpenschutz.

Kastration macht Rüden nicht automatisch friedlicher
Noradrenalin ist bei stressbedingter Aggression im Spiel ©GeorgeB2/Pixabay

Noradrenalin

Noradrenalin hat zwei Funktionen. Es ist einerseits selbst ein Botenstoff, andererseits hemmt oder verstärkt es Hirnfunktionen. Darum wird es auch als Neuromodulator bezeichnet. Es ist das akute „Kampfhormon“, dasjenige, das ausgeschüttet wird, wenn es um stressbedingtes Aggressionsverhalten vor allem im Zusammenhang mit Selbstverteidigung geht. Wenn es für den Hund heißt: Aggression ist ein Risiko, aber immerhin ein Ausweg. Das kann auch der Präventivschlag sein, wenn Angriff als beste Verteidigung gesehen wird. 

Gleichzeitig verstärkt Noradrenalin situatives Lernen. Die Gleichung, die daraus entsteht: Erfolgreiche Selbstverteidigung unter Noradrenalin führt in ähnlichen Situationen künftig zu einer noch schnelleren oder aggressiveren Selbstverteidigung. Zum Beispiel in Form von Leinenagression. Musste der andere Hund beim ersten Mal noch ganz nahe kommen, reicht dann künftig ein viel größerer Abstand als Auslöser für aggressive Leinen-Pöbeleien.

Man braucht nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, welches Aggressionspotenzial im Zusammenwirken beispielsweise von Oxytocin, Vasopressin, Dopamin und Noradrenalin entstehen kann. Und nichts davon wird durch eine Kastration auch nur im Ansatz positiv verändert. 

Adrenalin 

Auch Adrenalin ist an Stressreaktionen beteiligt. Aber anders als Noradrenalin sorgt es nicht für Angriff, sondern vor allem für Fluchtverhalten, also nicht für Aggression.Darum wird es auch als Fluchthormon bezeichnet. 

Ist eine Verpflichtung zur Kastration bei Hunden aus dem Tierschutz rechtskonform?

Bei Freigängerkatzen (nicht bei reinen Wohungskatzen) ist die pauschale Kastration zur Fortpflanzungsvermeidung als Indikation rechtskonform, weil diese sich unkontrolliert vermehren können. Auch für Hunde aus dem Tierschutz wird oft pauschal vertraglich eine Kastrationspflicht vereinbart. Die pauschale Kastration ohne Indikation verstößt bei Hunden gegen das deutsche Tierschutzgesetz. Dort heißt es in §1, Abs.2: “Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Verboten ist nach §6 des TierSchG das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. Die Kastration gehört dazu.

Das Verbot gilt nicht, wenn der Eingriff im Einzelfall nach tierärztlicher Indikation geboten ist oder zur Verhinderung der unkontrollierten Fortpflanzung. Unkontrollierte Fortpflanzung ist bei Hunden im deutschsprachigen Raum keine Indikation, weil sie hier kaum stattfindet. Wird ein Organ oder Gewebe aus medizinischer Notwendigkeit und therapeutischen Gründen heraus entfernt, so ist dies erlaubt.

Was bedeutet das für die Kastration von Hunden? Sie ist nur erlaubt, wenn es dafür nach tierärztlicher Einschätzung einen vernünftigen Grund gibt. Es muss durch die Kastration also mit großer Wahrscheinlichkeit ein therapeutischer Erfolg zu erzielen sein. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Wenn eine weniger drastische Methode mit Aussicht auf Erfolg gibt – zum Beispiel Verhaltenstherapie oder Training – , dann ist diese dem chirurgischen Eingriff zugunsten der Unversehrtheit des Rüden vorzuziehen. Für Verträge, die pauschal die Kastration verlangen, bedeutet das, sie sind mit unserem Tierschutzgesetz nicht vereinbar.

Fazit

Aggressivität ist vor allem bei Rüden ein sehr häufiger Grund für eine Kastration. Obwohl Aggressionen oft nicht sexuell motiviert sind, hoffen Halter durch den Eingriff ihren Rüden besser unter Kontrolle bringen zu können. Wunsch und Wirklichkeit liegen bei der Hoffnung auf positive Verhaltensveränderungen durch Kastration aber oft weit auseinander. Kastration, besonders Frühkastration, kann das Verhalten sogar verschlimmern. Sofern Kastration nicht medizinisch geraten ist, sollten Hunde, die zu Aggressionsformen neigen, die nicht dem Sexualverhalten entspringen, intakt bleiben.

Die Steuerung aggressiven Verhaltens erfolgt durch das komplizierte Zusammenwirken zahlreicher Hormone und Neurotransmitter. Nicht zuletzt kann aggressives Verhalten auch erlernt und durch Stress, Haltungsbedingungen, Missverständnisse oder Unwissenheit in Erziehung und Umgang bedingt sein. Ursachen, die eine Kastration nicht abstellen kann. 

Es gibt Indikationen, bei denen Kastration aggressives Verhalten verringern kann. Dazu müssen die Auslöser dem Funktionskreis des Sexualverhaltens und dem Konkurrenzverhalten zugeordnet werden können. Da das in der Praxis nicht immer klar zu entscheiden ist, lässt sich durch eine chemische Kastration mittels Chip ausprobieren, ob die chirurgische Kastration tatsächlich eine Verbesserung des Verhaltens herbeiführen könnte. 

Wenn nicht, sind gezieltes Training, Coaching und verhaltenstherapeutische Maßnahmen wirkungsvoller. Die Unvorhersehbarkeiten und das hormonelle Ungleichgewicht, die eine Kastration mit sich bringt, werden dadurch vermieden. Ein Ungleichgewicht, das mittel- bis langfristig auch das Risiko für viele Krankheiten erhöhen kann. Vollständig abzulehnen ist eine Frühkastration, die noch einmal ganz besondere Risiken in sich trägt.

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Patricia Lösche

Patricia Lösche ist freie Autorin, Text- und Bild-Journalistin. Der Dolmetscher-Ausbildung folgten Biologie- und Journalistik-Studium, freier und redaktioneller Journalismus für verschiedene große Verlage. Später dann die Ausbildung zur Tierheilpraktikerin an der ATM und die Tierpsychologie-Ausbildung an der ATN. Empathie, Achtung und Verständnis auf Augenhöhe im Umgang mit Tieren sind Patricia Lösche ein besonderes Anliegen. Seit 2014 schreibt sie für ATM und ATN Blogbeiträge, ist Autorin zahlreicher Lehrskripte mit einem breiten Fächerkanon und betreut als ATN-Tutorin Studierende unterschiedlicher Fachbereiche. In die Wissensvermittlung fließen mehrjährige Praxis-Erfahrungen aus der naturheilkundlichen und verhaltenstherapeutischen Behandlung von Pferden, Hunden und Katzen ebenso ein, wie die jahrzehntelange Erfahrung eigener Pferde-, Hunde- und Katzenhaltung. Sie ist Mitglied im Fachverband niedergelassener Tierheilpraktiker (FNT) und 1.Vorsitzende im Berufsverband der Tierverhaltensberater und –trainer (VdTT).

Quellenauswahl

Sophie Strodtbeck/Udo Gansloßer: Kastration und Verhalten beim Hund (Müller Rüschlikon, 2011)

Dr. Gabriele Niepel: Kastration beim Hund  (Kosmos, 2007)

Deutscher Tierschutzbund: Unfruchtbarmachung von Hunden (12/2021)

Heather K. Caldwell: Oxytocin and Vasopressin: Powerful Regulators of Social Behavior (The Neuroscientist,Mai 2017)

Dr. Marie Nitzschner: Die Persönlichkeit des Hundes. Wie Gene und Umwelt das Wesen bestimmen (Kosmos 2021)

P. Farhoody, J.A. Serpell et al. : Aggression toward familiar people, strangers and conspecifics in gonadectomized and intact dogs (Frontiers in Veterinary Science, 2018)

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