Schlangen sind anders. Tiergestützte Arbeit (TGA) mit Hunden, Pferden und Katzen ist inzwischen etabliert. Aber auch andere Tiere kommen in der TGA zum Einsatz. Dazu gehören Alpakas und Esel oder auch Hasen und Meerschweinchen. Sie fördern und begleiten Entwicklungsprozesse eines Menschen. Schlangen als Mediatoren bei tiergestützten Interventionen sind dagegen weitgehend unbekannt. Ihr Einsatz eröffnet hier aber ganz neue Möglichkeiten, wobei ihre ruhige Wesensart von wesentlicher Bedeutung für die Arbeit ist und besonders bei der Konzentrations- und Wahrnehmungsförderung hilfreich und unterstützend sein kann. Folgen Sie der ATN-Schülerin und Schlangenexpertin Charleen Schlichtmann bei ihrem spannenden Projekt “Tiergestützte Arbeit mit Schlangen”.
Schlangen in der Tiergestützten Arbeit?
Schlangen sind bei den meisten Menschen eher negativ besetzt. Man bestaunt ihre Schönheit und ihre Eleganz, möchte ihnen aber lieber nicht begegnen. Vom Anfassen ganz zu schweigen. Schlangen als ”tierische Begleiter” bei einer tiergestützten Intervention? Das kann man sich nicht so recht vorstellen. Ein nicht domestiziertes Tier, das als Reptil in seiner gesamten Erscheinung und mit seinem fremden Wesen so gar nicht unseren Vorstellungen eines Therapietiers entspricht: Kann das überhaupt gehen? Dass es sehr wohl funktioniert, zeigt das Projekt “Tiergestützte Arbeit mit Schlangen“ der ATN-Schülerin Charleen Schlichtmann. Die Schlangenexpertin untersuchte in dem auf mehrere Jahre angelegten Projekt den Einsatz von Schlangen in einer reptiliengestützten Förderung. In ihrem spannenden und kurzweiligen Bericht schildert Charleen Schlichtmann ihre Motivation für die Untersuchung, skizziert ihre Arbeitsweise und beschreibt ausführlich Möglichkeiten und Chancen, aber auch Grenzen der schlangengestützten Arbeit. Lassen wir sie selbst zu Wort kommen.
Chancen und Grenzen der Arbeit mit Schlangen
Grundsätzlich gilt: Die Tiergestützte Arbeit ist zunächst einmal tierartunabhängig. Denn im Prinzip ist es richtig, dass viele Methoden der tiergestützten Intervention, die mit einer Tierart umgesetzt werden, angepasst auch mit anderen realisiert werden können. Aber eben nur im Prinzip… Denn jedes Tier hat bei all seinen individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten auch Grenzen, die zu erkennen und zu respektieren sind, um so das Tier sinnvoll und dem Tierwohl entsprechend einsetzen zu können.
Für die Schlange im Speziellen kommen hier noch weitere reglementierende Eigenschaften hinzu, die durch tierartspezifische Eigenheiten bedingt sind: So haben sie vor allem gegenüber den üblicherweise eingesetzten Tierarten eine ganz andere Sinnenwelt und zeigen daher auch ein gänzlich anderes Verhaltensrepertoire (s. Info-Kasten). Darüber hinaus sind sie nicht domestizierte Wildtiere. Sie lassen sich nicht streicheln, können keine Tricks lernen und weisen keinen Gehorsam auf. Sie können nur manchmal körperliche Nähe zulassen, und häufig liegen sie zurückgezogen in Verstecken und Höhlen… Und ganz unabhängig davon haben viele Leute eine (tiefsitzende) Aversion gegen diese Art von Tieren.
Daher stellte sich mir zu Beginn des Projekts berechtigterweise die Frage: Kann ein nicht domestiziertes Tier, das bei Berührung oft einer hohen Stressbelastung ausgesetzt ist, in der Gesundheitsförderung eines Menschen überhaupt wirksam eingesetzt werden?
Die Schlange als tierischer Begleiter
Aber gerade diese „Unwägbarkeiten“ machten die ganze Sache für mich umso reizvoller, da ich Schlangen für äußerst faszinierende und anregende Wesen halte, die mich selbst schon jahrelang begleiten. Auch wenn sie keine „Kuscheltiere“ im herkömmlichen Sinn sind und für die Unterstützung in der Tiergestützten Arbeit auf den ersten Blick wenig(er) geeignet erscheinen, sah ich gerade in ihrem wesensbedingten Verhalten dennoch eine Chance für ihren Einsatz bei der tiergestützten Intervention. Eine besondere Qualität, die durch ein bewusstes Einsetzen im sozialen Bereich beim Menschen ressourcenfördernd sein kann, ist die enorme Ruhe, die Schlangen ganz selbstverständlich allein schon durch ihre Wesensart ausstrahlen. Diese „besondere Qualität“ war es auch, die letzten Endes den Ausschlag für das nachfolgend beschriebene Projekt gab. Also: Wie funktioniert die heilsame und förderliche Interaktion zwischen Mensch und Schlange?
Schlangengestützte Förderung: Ein Projektbeispiel
Für das von mir geplante schlangengestützte Projekt waren die Voraussetzungen für ein derartiges Vorhaben denkbar günstig: Durch die jahrelange eigene intensive Beschäftigung mit Schlangen brachte ich die nötigen Erfahrungen im Umgang mit diesen Tieren mit und konnte meine vier eigenen Schlangen – zwei Kornnattern (Pantherophis guttatus) und zwei Königsnattern (Lampropeltis) – als Therapietiere einsetzen, ohne dass diese ihre angestammte Umgebung verlassen mussten. Klientin war ein junges, reizoffenes Mädchen aus meinem engen Bekanntenkreis – also auch hier waren mir die spezifischen Lebensumstände und -hintergründe vertraut, sodass ich mich auf sicherem Terrain bewegte und ohne Umschweife das Vorhaben in Angriff nehmen konnte.
Das Projekt selbst erstreckte sich über mehrere Jahre und folgte einem sehr niedrigschwelligen Ansatz mit einem sehr kleinschrittigen, dem Alter des Kindes angepassten Vorgehen (zu Projektbeginn war das Mädchen 4 Jahre alt). Die gemeinsamen Interaktionen fanden in unregelmäßigen Abständen in meinem privaten Haushalt statt. Die Schlangen waren als wesentlicher Bestandteil des tiergestützten Projektes zwar meist präsent, kamen aber nicht immer direkt zum Einsatz. Im direkten Kontakt mit dem Tier sind eindeutige Grenzen zu beachten. Nicht immer mag eine Schlange aus dem Terrarium geholt werden. Falls es möglich war, sie aus ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen, wurde dies zeitlich kurz gehalten. Es ist wichtig, mit Bedacht und Ruhe zu agieren und der Schlange genügend Bewegungsfreiraum zuzugestehen. Um Risiken zu vermeiden, ist es unabdingbar, vorausschauend zu arbeiten und so zu handeln, dass die (körperliche) Kontaktaufnahme freiwillig von der Schlange ausgeht, sie also keinesfalls dazu gezwungen wird.
Gut zu wissen
Schlangen gehören zu den Schuppenkriechtieren und haben sich im Laufe der Evolution an die unterschiedlichsten Lebensräume angepasst. Ihr Körper ist stark verlängert, die Extremitäten sind zurückgebildet. Sie können an Bäumen hochkriechen, springen und schwimmen, meistens kriechen sie jedoch. Reptilien sind wechselwarme (poikilotherme) Tiere, deren Körpertemperatur abhängig ist von der Umgebungstemperatur. Ihre Sinnenwelt unterscheidet sich erheblich von der anderer Tiere. Sie sind taub, einige Arten sind fast oder ganz blind. Allerdings nehmen sie durch Übertragung auf den Körper feinste Vibrationen, Erschütterungen und zu einem geringen Teil auch Schallwellen wahr. Am besten ausgeprägt ist der Geruchssinn. Mit der Zunge nehmen sie Duftstoffe auf, die zum sogenannten Jacobson-Organ im Gaumendach des Mauls gelangen und dort ausgewertet werden. So bekommen Schlangen einen Eindruck von ihrer Umgebung und finden ihre Beute, die sie entweder mit Gift oder durch Würgen töten. Durch spezielle Bewegungen wie das Vortäuschen von Bissen oder das Sich-Zurückziehen und Fauchen, zeigen Schlangen, dass sie gestresst sind oder sich bedroht fühlen. All das ist für die artgerechte Haltung in einem Terrarium unbedingt zu beachten, auch in der privaten Haltung.
TGA mit Schlangen braucht schrittweise Gewöhnung
Während der ersten Schritte stand für die Klientin die Beobachtung der Schlangen im Vordergrund. Über Gespräche habe ich sie schrittweise an die Tiere herangeführt. Der nächste Schritt war die Auseinandersetzung mit dem Terrarium, dem Zuhause der Schlangen. Das Mädchen durfte die Terrarien reinigen, einrichten und später die Temperatur und Luftfeuchtigkeit überprüfen, um sich in die Verantwortungsrolle zu begeben und sich so damit zu befassen, was die Schlange braucht, damit es ihr gut geht.
Im späteren Verlauf des Projektes zeigte ich dem Mädchen eine Schlange, indem ich das Tier herausholte, aber noch selbst hielt. Dabei erklärte ich, worauf man achten muss, wenn eine Schlange gehalten wird: Die nötige Ruhe und Bewegungsfreiheit sind essenziell. Dann durfte das Mädchen die Schlange auch berühren, zunächst mit nur einem Finger. Später konnte es sie selbst halten oder über sich kriechen lassen, wenn sie es sich selbst zutraute. Wurde das Kind zu hektisch, brachte ich die Schlange wieder zurück in ihre gewohnte Umgebung. Bei jedem Setting wurde von mir erneut gefragt, was beachtet werden muss, wenn man eine Schlange berühren möchte. Es ist wichtig, ruhig zu sein, und Hektik zu vermeiden, eventuell einmal tief durchzuatmen und sich selbst langsam zu bewegen.
Schlangen in der TGA: Kreativität gefragt
Es ist bereits mehrfach angeklungen, dass aufgrund der wesensbedingten Eigenheiten der Spezies Schlange die direkten körperlichen Kontakte auf ein Minimum reduziert werden sollten. Was kann man dann aber unter derartigen Voraussetzungen noch tun? Sind so nicht die Grenzen der Möglichkeiten schnell erreicht? Hier sind Flexibilität und Kreativität gefragt. Es gibt über den eigentlichen Körperkontakt hinaus noch zahlreiche weitere Aufgaben und Beschäftigungen rund um das Thema Schlange, die Grundlage für weitere Settings sein können.
Da Schlangen für die meisten Menschen nur wenig oder gar unbekannte Wesen sind, bietet sich eine Unterhaltung über die Schlangen im Allgemeinen an. Denn es gibt viele wissenschaftliche und informative Hintergründe, über die gesprochen werden kann und die somit in die Projektarbeit eingebracht werden können.
Bevor die Kontaktaufnahme mit der Schlange erfolgt, können Aufgaben und Themen rund um das Tier als distanzierter Einstieg genutzt werden, um so eventuelle Ängste abzubauen und sich dem fremden Reptil entspannt anzunähern. Neben dem Beobachten, Fotografieren, dem Einrichten des Terrariums, Füttern, dem Bauen von Einrichtungsgegenständen für die Tiere und dem Suchen von Ästen, können kreative Beschäftigungen mit ins Spiel kommen. Manchmal fand das Mädchen die abgestreifte Haut der einzelnen Tiere, das sogenannte Natternhemd. Mit dem Material baute das Kind Skulpturen, integrierte es in seine Malereien oder betrachtete die einzelnen Schuppen ganz genau. Mit der Thematik Schlange konnten wir uns so auch hervorragend künstlerisch auseinandersetzen. Es entstanden Gespräche, Fotografien, Videos, Geschichten, Basteleien und Malereien.
Projekt-Ergebnis der TGA mit Schlangen
Das junge Mädchen konnte durch das schlangengestützte Projekt Erfahrungen machen, die sie stets auf ihrem weiteren Lebensweg positiv beeinflussen. Neben der Förderung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit setzte sie sich mit eigenen Grenzen und denen anderer Lebewesen auseinander. Achtung und Rücksicht vor einem Gegenüber waren höchst relevant. Der Tierkontakt war insofern bedeutsam, da er durch die Wesensart der Schlange ganz automatisch Ruhe und Konzentration förderte – hilfreiche Ressourcen für das reizoffene Kind. Die Beruhigung, Entspannung und das Sein im Hier und Jetzt förderten Achtsamkeit und sinnliche Wahrnehmung. Durch das Kennenlernen des zuvor Fremden wurden neue Perspektiven entdeckt, Ängste wurden abgebaut und ein Gefühl von Selbstvertrauen erzeugt.
Fazit und Ausblick
Der Anleiter trägt somit bei dieser Form der tiergestützten Intervention eine besonders große Verantwortung. Dabei gilt es, vor allem auf den schmalen Grad zwischen den Bedürfnissen und der Sicherheit des Tieres einerseits und der Arbeit mit dem Klienten andererseits zu achten. Die Tiergestützte Arbeit mit Schlangen erfordert in hohem Maße die Orientierung am Individuum Tier, lässt zum anderen aber auch ein großes Maß an Kreativität zu. Darüber hinaus macht gerade die Spezies Schlange die eng gefassten Grenzen beim Einsatz des Reptils in der Tiergestützten Arbeit deutlich und bringt so auch den Klienten dazu, über die eigenen persönlichen Grenzen zu reflektieren. Rücksichtnahme und der Respekt vor den Grenzen des anderen spielen eine große Rolle, so dass auch ganz automatisch das Thema Empathie in den Blickpunkt tritt.
Wie für andere eingesetzte Tierarten auch, gilt ganz selbstverständlich und allgemein, vielleicht sogar noch mehr, auch für die Schlange: Jedes Tier sollte und darf nur innerhalb seiner individuellen Möglichkeiten eingesetzt werden. Nur so kann es sinnvoll und harmonisch in einer tiergerechten Zusammenarbeit agieren. Daher sind Reptilien-Projekte freilich auch nicht „massenkompatibel“; und die Tiere sollten nur sparsam für spezielle Fälle und dann wohl überlegt eingesetzt werden.
Einführende LIteratur:
Roland Bauchot, Schlangen: Evolution, Anatomie, Physiologie, Evolution und Verbreitung, Verhalten, Bedrohung und Gefährdung, Haltung und Pflege, Augsburg 1994, ND ebd. 1998.
Chris Mattison, Die Enzyklopädie der Schlangen, München 2008.
Charleen Schlichtmann
Charleen Schlichtmann absolvierte die Studiengänge Intermediale Kunsttherapie (M.A.) und Expressive Arts in Social Transformation (B.A.) in Hamburg. Sie arbeitet therapeutisch und pädagogisch mit Kindern und schloss 2020 den Fernlehrgang „Tiergestützte Arbeit mit dem Spezialgebiet Hund“ an der ATN ab.
Ihre besondere Faszination gilt den Schlangen. Darum untersuchte sie deren Einsatz in der Tiergestützten Arbeit in Form eines praktischen Projektes. Ihr Motto: Jedes einzelne Tier hat Qualitäten, die sich für die Tiergestützte Arbeit nutzen lassen.
Erlebnismöglichkeiten erweitern, neue Perspektiven wahrnehmen, das erweitert die Möglichkeiten, andere Menschen in der therapeutischen Arbeit zu unterstützen.