Wolfsangriffe – Fakt oder Fiktion?

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Wolfsangriffe – Fakt oder Fiktion?Tanja Askani / fishing4

Wie gefährlich ist der Wolf?

Mit Ausnahme von uns Menschen sind Wölfe die am weitesten verbreiteten Säugetiere der Welt. Sie sind äußerst anpassungsfähig. Ein 20 Kilo schwerer Wolf kann in den Wüstengebieten von Israel leben, und ein 75 Kilo schweres Tier in der kanadischen Tundra. Die wilden Kaniden können überall leben – auch in der Nähe von Menschen. Ihre Toleranz ist unglaublich – sogar wenn wir ihre Jungen bedrohen oder ihnen Futter wegnehmen.

Tatsache ist, dass Wölfe unter bestimmten Umständen eine Gefahr für Menschen sein können. Für den größten Teil dieser Gefahren sind jedoch wir Menschen verantwortlich. Daher sollten wir zunächst unser eigenes Handeln überprüfen, bevor wir dem Wolf die Schuld geben. Viele Tiere, die mit uns zusammenleben, wie Pferde oder Hunde haben mehr Menschen getötet als Wölfe. Daher sollte es keinen Grund geben, Angst vor dem Wolf zu haben.

Die großen Beutegreifer sind keine Fressmaschinen, sondern hochintelligente Lebewesen mit einem Sozialleben ähnlich dem unserem. Bei der Auswahl ihrer Beute sind sie sehr selektiv. Sie sind intelligent genug, Tiere zu meiden, die sie verletzen oder töten könnten, wie beispielsweise Bären. Darum beobachten sie sie sehr genau und oft aus der Nähe, was dann als „furchtloses Verhalten“ interpretiert wird. Aus irgendeinem Grund – den vermutlich nur die Wölfe kennen – sind wir Menschen fast immer von der Liste ihrer potenziellen Beutetiere ausgeschlossen, selbst wenn sie von uns nicht gejagt und verfolgt werden.

Dennoch hat es in der Vergangenheit Angriffe auf Menschen gegeben und es wird sie auch in Zukunft geben. Dank der vielen Schutzmaßnahmen durch verbesserte Artenschutzgesetze kehren die Wölfe wieder in Gebiete zurück, in denen sie früher ausgerottet waren. Und wir breiten uns immer mehr aus und dringen auch in des Wolfs Revier ein. All dies führt dazu, dass die Wahrscheinlichkeit eines Angriffes steigt.

Wir müssen aufhören, den Wolf als „böse“ oder „gut“ zu sehen.
Wenn wir bedenken, dass Wölfe fähig sind, Tiere zu töten, die ein Mehrfaches ihres Körpergewichtes wiegen, dann sollte es nicht überraschen, dass sie – wie jede andere Beutegreiferart – auch einmal einen Zweibeiner töten. Vielmehr ist es eher erstaunlich, dass sie im Laufe der Geschichte nicht viel mehr Menschen getötet haben.

Wir müssen aufhören, den Wolf als „böse“ oder „gut“ zu sehen. Ein Wolf ist ein Wolf. Als Beutegreifer können wir nicht von ihm erwarten, prinzipiell keine Menschen zu fressen (eine leichte und im Überfluss vorhandene Beute). Wir sollten nur froh sein, dass er uns bisher so intensiv gemieden hat – und alles dafür tun, dass dies auch so bleibt. Dies können wir durch verschiedene Maßnahmen tun:

1. Bekämpfung der Tollwut

Diese Krankheit war und ist die Hauptursache vieler Wolfsangriffe. Da Haushunde die Tollwut auf Wölfe übertragen, sollte weiterhin der Schwerpunkt der Bekämpfung auf der Impfung von Hunden liegen. In Europa haben wir außerdem sehr gute Erfolge bei der Immunisierung von Wildtieren, sodass zumindest auf unserem Erdteil die Gefahr, dass Wölfe Tollwut bekommen, stark eingeschränkt ist.

2. Erhaltung des Habitats und der Beutetiere der Wölfe

Der Schutz der Lebensräume der natürlichen Beutetiere des Wolfes und der Schutz der Nutztiere durch den Menschen führt dazu, dass Wölfe nicht von menschlichen Nahrungsquellen abhängig werden, und reduziert das Risiko der Habituierung und der Kontakte zwischen Wölfen und Menschen und damit auch von Angriffen.

3. Wölfe müssen wild bleiben

Wölfe, die sich an Menschen gewöhnt haben, sind unter bestimmten Umständen verantwortlich für Angriffe. Wichtig ist darum, dass der Wolf Menschen nicht mit Futter in Verbindung bringt und eine gewisse Scheu vor ihnen behält. Aber Wölfe, die sich in der Nähe von Ortschaften aufhalten, bedeuten nicht gleich eine Gefahr für Leib und Leben der Dorf- oder Stadtbewohner! In der Nähe von Rom leben zahlreiche Wölfe, und einige der Leser haben wahrscheinlich im Fernsehen den Bericht aus Rumänien gesehen, in dem der mit einem Radiohalsband besenderte Wolf „Timish“ von den Menschen unbeachtet mitten durch eine Stadt läuft. Dies ist ein völlig normales Verhalten und muss nicht gleich mit einer Armee von Jägern beantwortet werden – wie das heute leider noch viel zu oft der Fall ist.

4. Aufklärung und Information

Offensichtlich spukt Rotkäppchen immer noch in den Köpfen der Menschen. Mehr denn je sind daher Organisationen und Gruppen gefordert, besonders die Bevölkerung in den Wolfsgebieten über Wölfe aufzuklären.

5. Der Zeitfaktor

Ein wenig bedachter, aber sehr wichtiger Faktor ist die Zeit. Denn Studien haben bewiesen, dass Menschen ihre Angst vor dem Wolf verlieren, je länger sie sich an die Nähe dieser Tiere gewöhnt und festgestellt haben, dass ihnen dadurch keine Gefahr droht.

„Unsere Kinder leben in einer gefährlichen Welt … aber ganz sicher nicht wegen der Wölfe!“

Die Angst der Menschen vor dem Wolf entbehrt jeder realen Grundlage. In den letzten 50 Jahren wurden in Europa neun (!) Menschen von wilden Wölfen getötet, in fünf Fällen war dabei Tollwut im Spiel. Die anderen vier Unfälle werden aus den spanischen Pyrenäen gemeldet, wo sich die Wölfe über Jahre hinweg in der Nähe eines Geflügelhofes aufgehalten und sich so an Menschen gewöhnt haben.

Durch verstärkten Schutz leben wieder mehr Wölfe in unserer Nähe. „Müssen wir uns nun auch mehr Sorgen um unsere Kinder machen?“ oder „Können wir unsere Kinder in Wolfsgebieten noch draußen spielen lassen?“, fragen sich besorgte Eltern. Von Kindern bis 14 Jahre starben im Jahr 2011 in Deutschland 86 im Straßenverkehr. Im selben Jahr wurden 45 Kinder ermordet und 14.918 missbraucht.

Millionen Menschen werden jährlich von Hunden gebissen; 60 bis 70 Prozent davon sind Kinder. Zwischen 1998 und 2007 starben in Deutschland 39 Menschen durch Hundebisse.

Unsere Kinder leben in einer gefährlichen Welt. Und Eltern haben in der Tat Grund zur Angst, wenn sie ihre Kinder spielen lassen: draußen, drinnen, oben, unten, in einem Auto, in einem Haus, bei Freunden usw. – aber ganz sicher nicht wegen der Wölfe!

Es reicht nicht aus, Menschen über die Schönheit und vor allem die Notwendigkeit von Wölfen aufzuklären. Wenn wir wollen, dass Wölfe in unserer Nähe leben und von unseren Mitbürgern akzeptiert werden, müssen wir auch die Verantwortung übernehmen für den Druck, den wir dadurch auf alle die ausüben, die mit den Tieren nicht so vertraut sind wie wir. Und bei den Wölfen müssen wir akzeptieren, dass, wenn die Umwelt eines Tieres verändert wird, sein Verhalten sich ebenfalls ändern wird. Alles Gerede über die „wundervollen und wilden Wölfe“ lässt uns glauben, dass wir mit ihnen sicher sind. Ich hoffe mehr als alles auf der Welt, dass Wölfe sich in dieser Welt weiter verbreiten und ungestört leben können. Aber mit der Anti-Wolf-Stimmung, die ohne Zweifel auch bei uns in Deutschland immer noch herrscht, werden auch die wenigen Wolfsangriffe, die es gibt oder geben könnte, die Menschen in ihrer Meinung bestätigen, dass wir keine Wölfe brauchen.

„Die Vorstellung von Wölfen als mordende Ungeheuer oder unfehlbare Heilige sagt mehr über denjenigen aus, der sie hat, als über die Kreatur aus Fleisch und Blut.“

Für viele ist der Wolf ein Bild in ihrer Vorstellungskraft. Die, die Angst vor ihm haben, sehen ihn als Bestie, die Tod und Vernichtung bringt, ein Ungeheuer, das getötet werden muss, bevor es uns tötet. Dieses Bild vom Wolf hat ihm nur geschadet. Aber auch die naive Vorstellung vom Wolf als edlem Wesen, das nur schwache, kranke und alte Tiere frisst, dient ihm nicht. Wenn etwas auf ein Podest gehoben wird, gibt es nur noch einen Weg, und der ist nach unten. Wenn wir den Wolf als edles, immer nur Gutes tuendes Tier sehen, stellen wir unfaire Erwartungen an ihn, die er nie erfüllen kann. Viele Heilige sind in den Händen derer, die sie einst verehrt haben, zu Märtyrern geworden.

Wenn ein Wolf einen Menschen tötet – und das wird immer wieder einmal geschehen – dann werden die, die ihn sowieso vernichten wollen, sich bestätigt fühlen, seine Ausrottung voranzutreiben. Und die, die ihn für heilig hielten, werden verwirrt und erstaunt stammeln, dass „das eigentlich nicht geschehen kann … ich dachte, dass noch nie ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen angegriffen hat …“

Die Bedrohung durch Beutegreifer ist für uns Menschen so gering, dass sie noch nicht einmal ein Augenzwinkern wert ist. Aber unsere relative Sicherheit in der Nähe von ihnen bedeutet nicht, dass sie uns lieben. Die Wölfe kümmert es nicht, ob sie unser Totemtier sind. Ebenso ist ihnen ihr schlechter Ruf im Märchen von Rotkäppchen egal. Die Vorstellung von Wölfen als mordende Ungeheuer oder unfehlbare Heilige sagt mehr über denjenigen aus, der sie hat, als über die Kreatur aus Fleisch und Blut. Wölfe sind intelligente, soziale, anpassungsfähige, wilde Tiere mit Charaktereigenschaften, die von Individuum zu Individuum verschieden sind.

Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass die wilden Verwandten unserer Hunde große Beutegreifer sind, die – ebenso wie andere Raubtiere – aber auch wie viele unserer Hunde potenziell gefährlich sind. Das bedeutet nicht, dass wir jeden Wolf mit einer ungesunden Furcht oder gar als Dämon betrachten sollen. Ist unser Leben so bequem, steril und sicher geworden, dass wir lieber Dämonen und Geister beschwören, statt all unsere Sinne auf das zu konzentrieren, was vor uns steht? Wahre Mysterien und Wunder werden denen erschlossen, die ihre Augen öffnen. Sie bestehen aus den Elementen der Erde, nicht aus den fantastischen Nebeln unserer Vorstellungskraft.

Seien wir dankbar für jeden Wolf, der unser Land mit seiner Anwesenheit ehrt, und geben wir ihm den Platz und den Respekt, der ihm gebührt.

autorin elli h radinger

Elli H. Radinger

Die ehemalige Rechtsanwältin lebt als Fachjournalistin und Autorin mit Schwerpunkt Wolf und Hund in Deutschland und den USA und schreibt neben Fachbüchern über ihr Lieblingsthema auch literarische Sachbücher und Romane. Gemeinsam mit Günther Bloch gründete Radinger 1991 die „Gesellschaft zum Schutz der Wölfe e.V.“. Einen großen Teil ihrer Zeit verbringt sie im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark, wo sie seit über zwei Jahrzehnten wilde Wölfe beobachtet und im Wolfsprojekt mitarbeitet. Wolfsfreunde haben die Gelegenheit, die Wolfsexpertin als Guide in Yellowstone zu buchen. Sie ist der Überzeugung: „Wir Menschen können viel von wilden Wölfen lernen.“ Als Herausgeberin des Wolf Magazins berichtet und informiert sie regelmäßig über spannende Ereignisse aus der Welt der Wölfe.

Webseiten: wolfmagazin.de und elli-radinger.de

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